Kinder brauchen sichere Bindungen
Wenn ein Mensch auf die Welt kommt, ist sein Gehirn noch unfertig und unausgereift. Gerade einmal die fürs Überleben unmittelbar wichtigen Funktionen sind vorhanden. Alle anderen Bereiche müssen sich erst noch entwickeln. Faszinierend dabei ist, dass das Gehirn des Men- schen individuell programmierbar ist. Das ist kein Nachteil, ganz im Gegenteil. Mit einem noch unfertigen Gehirn sind wir dazu in der Lage, uns in den vielen verschiedenen Lebenssituationen und Gemeinschaften, in die ein Mensch hineingeboren werden kann, zurechtzufinden und uns anzupassen. Damit die Anpassung gelingt, sind Vertrauen und eine sichere Bindung an eine Be- zugsperson wichtig.
Vernetzungsprozesse im Gehirn
Kinder sind neugierig und wollen Neues erfahren. Neues zu wagen, kann aber auch bedrohlich sein. Es kann verängstigen, zum ersten Mal ohne die Hand eines Erwachsenen zu laufen, zum ersten Mal ins Wasser zu gehen oder das erste Mal alleine das Haus zu verlassen
– und sei es nur, um das Nachbarskind zu besuchen.
Mit allen neuen Erlebnissen und Erfahrungen bilden sich Vernetzungen und Strukturen im Ge- hirn. Die Gehirnzellen, die es nicht schaffen,
sich zu vernetzen, sterben ab. Die anderen überle-
ben. Dieser Prozess findet größtenteils in den ersten
Lebensjahren statt. Doch tatsächlich ist das Gehirn erst mit etwa 20 Jahren vollständig ausgereift, lange nach Beendigung der Pubertät.
Die Vernetzungen bilden sich nur optimal aus, wenn das Kind Vertrauen besitzt. Wenn es ver- unsichert
ist, Angst oder Druck verspürt, wenn es sich alleine
fühlt und keine Resonanz auf sein Verhalten erfährt, breiten sich Stresshormone im Gehirn aus. Damit fällt es dem Kind schwer, Neues zu lernen,
es greift vielmehr auf bereits vorhandene Muster zurück. Dies können Zorn, Angst, Trotz oder Rückzug
sein. Jeder von uns weiß das: Auch im Erwachsenenalter können wir unter Angst und Stress nicht lernen.
So ist das, was wir uns wenige Minuten vor einer wichtigen
Prüfung noch ängstlich einprägen wollen, meist vergebliche Liebesmüh.
Voraussetzungen, damit sich ein Kind sicher fühlen kann
Das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen, das für eine gute Gehirnentwicklung wichtig ist, setzt eine verlässliche Bindung an Bezugspersonen voraus. Das sind in den meisten Fällen die Eltern, aber auch Großeltern, Pflegepersonen, Erzieherinnen und Erzieher oder andere nahestehende Erwachsene können eine wichtige Rolle spielen. Kinder machen
die Erfahrung, dass ihnen diese Menschen Nahrung, Geborgenheit, Trost und Zärtlichkeit geben und ihnen das sichere Gefühl
vermitteln, dass sie für sie da sind.
Untersuchungen haben gezeigt, dass
60 bis 70 Prozent
der Kinder eine sichere emotionale Bin- dung an Erwachsene haben. Jeweils
10 bis 15 Prozent
weisen Bindungsstile auf, die man als unsicher-vermeidend oder unsicher-ambivalent bezeichnet. Eine desorganisierte Bindung – ein Ergebnis von extrem unzuverlässigen, widersprüchlichen oder traumatisierenden Erfahrungen in der frühen Kindheit – ließ sich bei 5 bis 10 Prozent der Kinder nachweisen. Sie gilt als Risiko- faktor für eine ungünstige Entwicklung und spätere psychische Störungen.
Bindungen erhalten und stärken
Um Bindungen zu erhalten und zu
vertiefen, gibt es ein
paar grundlegende Anhaltspunkte. Zum Beispiel stärkt Zeit, die bewusst
miteinander verbracht wird, die emotionale Bindung an eine Bezugsperson. Das können Aktivitäten sein wie Spielen, Vorlesen,
Spazierengehen oder ein gemeinsames Hobby. Indem Sie sich Zeit nehmen, signalisieren Sie dem Kind, dass es wertge- schätzt wird. Wenn das Kind körperliche Nähe sucht, kuscheln oder hochgenommen werden will, gehen Sie darauf ein – und akzeptieren Sie, wenn es die Nähe nicht mehr braucht.
Weiterhin ist es wichtig,
dem Kind die Sicherheit zu geben, dass es Ihnen vertrauen kann. Ihr Kind wird vor viele
Herausforderungen gestellt werden. Vertrauen heißt nicht, dass Sie alles gut finden müssen, was Ihr Kind will, sagt und tut. Sie dürfen auch Grenzen
setzen, nein sagen und Ihrem Kind damit Orientierung geben. Wichtig ist nur, dass Sie das Kind in seinem Wesen und mit seinen Bedürfnissen sehen und ihm zeigen, dass Sie es ernst nehmen – auch wenn Sie ihm nicht alle Wünsche
erfüllen können oder nicht immer einer Meinung sind.
Umgekehrt brauchen Kinder
auch die Erfahrung, dass die Erwachsenen ihnen Vertrauen
schen- ken. Das können
Sie zeigen, indem Sie dem Kind altersgerechte Verantwortung
übertragen und ihm die Möglichkeit geben,
eigene Entscheidungen zu treffen.
Ein Kind muss lernen,
seine eigenen Fähigkeiten zu entdecken. Lob und positive
Bestärkung für gutes Verhalten
und Erfolge unterstützen das Selbstwertgefühl des Kindes und die Bindung an die Bezugspersonen. Wahlloses Loben ist dagegen
nicht förderlich. Es kann dazu führen, dass Kinder nicht die Möglichkeit haben, aus ihren Fehlern zu lernen. Konstruktive, ehrliche Rück- meldung, die auch Schwächen
oder Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigt,
ist wichtig für die Entwicklung von Fähigkeiten und die Motivation, sich zu steigern.
Kinder brauchen
das Gefühl, dass ihre Bezugspersonen regelmäßig und verlässlich für sie da sind – insbesondere in Situationen, in denen sie
Unterstützung oder
Trost brauchen. Konsisten- tes (widerspruchsfreies) und vorhersehbares Verhalten der Erziehenden gibt dem Kind Sicher- heit. Wenn Kinder wissen, was sie von ihren wichtigsten Menschen erwarten können, entwi- ckeln
sie ein Gefühl von Stabilität und Geborgenheit.
Ein soziales Umfeld, in dem diese Prinzipien berücksichtigt werden, unterstützt die Vernet- zungsprozesse im Gehirn und fördert die gesunde kognitive Entwicklung des Kindes.
Unter www.gesundheitstelefon-rlp.de finden Sie auf der Homepage der LZG diesen Text auch zum Nachlesen
und Hören und als Podcast
auf den gängigen Plattformen.
Weiterführende Links zum Thema:
Weitere Tipps und Anhaltspunkte zum Thema Kind-Bindungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Bindung als Voraussetzung für Bildung
Ungünstiges Bindungsverhalten und Bindungsstörungen bei Kindern
Literatur:
Verhaltensbiologische Erkenntnisse aus der Mutter-Kind-Bindungsforschung (PDF)
Starke Kinder lernen gut (PDF)
Broschüre der Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz (LZG)
Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz e.V.
Hölderlinstraße 8 ▪ 55131 Mainz ▪ Telefon 06131 2069-0 ▪ Fax 06131 2069-69 ▪ Mail info@lzg-rlp.de ▪ www.lzg-rlp.de Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ▪ Birgit Kahl-Rüther ▪ Telefon 06131 2069-15 ▪ Mail bkahl@lzg-rlp.de