Obgleich das 19. Jahrhundert von vielversprechenden Neuerungen und Reformen im Gefolge der französischen Revolution gekennzeichnet war, die gemeinhin "Bauernbefreiung" genannt werden, änderten sich die Lebensumstände für die Landbewohner nur zögerlich. Insbesondere der Wandel von der Natural- zur Geldwirtschaft, von der Abgabenpflicht des alten Systems hin zur Steuerpflicht bei gleichzeitiger Beibehaltung der Realteilung brachten manchen einst florierenden bäuerlichen Betrieb in Existenznot. Sie war bedrückend, wenn Epidemien und Missernten den Menschen der ohnehin geologisch benachteiligten Region weiter zusetzten.
Ferner verweisen immer wieder amtliche Berichte auf oft katastrophale Wohn- und Gesundheitsverhältnisse. So wohnten die meisten Menschen in zweigeschossigen Fachwerkhäusern, bei denen oftmals Stallung, Scheune und Wohnbereich ineinander übergingen.
Hauptaufenthaltsraum war der "Ern", der als Eingangsbereich, Flur und Küche fungierte, einen festgestampften Lehmfußboden hatte und die einzige offene Feuerstelle des Hauses barg.
Das Feuer brannte fast ununterbrochen, die Wände waren rußgeschwärzt. Das Essen - meist Haferbrei - wurde hier bereitet, Kleinvieh lief umher. Die Luft war stickig, fließendes Wasser holte man am Brunnen oder Dorfbach.
Nach den Hungerjahren von 1816/17 und 1823 war der Winter von 1846/47 besonders bedrohlich.
Wilhelm Heinrich Riehl notierte: "Die Armut ist hier ein Erbstück des Volkes geworden, der Hunger ist nicht bloß heuer, sondern in jedem Frühling der treueste Hausfreund. Es geht diesen Leuten wie dem Wild, wie den Vögeln,
die auch im Sommer fette und im Winter magere Jahre haben. Sonst ist der Begriff von Armut schwer zu bestimmen, hier ganz leicht. Diese Naturkinder sind arm, weil sie mit ihrem Kartoffelvorrat bis zum Juni hätten reichen sollen und haben nur bis zum Februar ausgereicht. Sie sind arm, nicht weil die Summe ihrer Bedürfnisse im Missverhältnis stand zur Summe ihrer Arbeitskraft, sondern nur zur Summe des schlechten Wetters vom vorigen Jahr. Der Himmel hat ihren Hunger größer werden lassen als die Kartoffeln."
Die ersten Selbsthilfemaßnahmen Raiffeisens resultierten unmittelbar aus der Erfahrung mit dem Elend nach den katastrophalen Ernten von 1846 und 1847: so die Einrichtung des "Vereins für Selbstbeschaffung von Brod und Früchten" (Weyerbuscher Brodverein).
Der mit dem Hunger einhergehenden Finanzknappheit, von unlauteren Kreditgebern durch Erhebung von Wucherzinsen für viele Haushalte existenzbedrohend, wendete Raiffeisen sich in der Folge zu. Insbesondere waren es die rücksichtslosen Modalitäten von Viehhändlern, die den notleidenden Menschen ihr letztes Hab und Gut abpressten und manch einen per Zwangsversteigerung vom angestammten
Hof in die Auswanderung nach Übersee oder in die neuen Industriezentren trieben.
(Quelle: "Friedrich Wilhelm Raiffeisen und sein Umfeld" von Dr. Reinhard Lahr, Kreisverwaltung Neuwied/Museumsführer 2003)